Eine Sportpädagogin des 20. Jahrhunderts - heute noch zeitgemäß
Nachruf auf Prof. Dr. Annemarie Seybold
1920 - 2010
von Prof. Dr. Claudia Kugelmann
"Der Grundsatz der Ganzheit fordert schließlich vom Leibeserzieher, dass er nicht nur die Fälle der Einzelheiten eines Faches, sondern auch dessen Stellung und Aufgabe im Schul- und Erziehungsganzen überschaut und es mit dem außerschulischen Leben der Kinder und ihrer Umwelt in Beziehung bringt" (Seybold, 1954, 84).
Wer, wie Annemarie Seybold, den Sportunterricht im Lichte der allgemeinen Pädagogik betrachtet, wird erkennen, dass dieses Zitat nicht nur in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts aktuell war, sondern auch heute noch die Bedeutung von Bewegung und Sport für die schulische Erziehung und Bildung auf den Punkt bringt. Mit den Grundsätzen der damaligen "modernen Pädagogik" (112) - Natur- und Kindgemäßheit, Lebensnähe, Anschaulichkeit, Spontanität, Ganzheit, Gemeinschaftsgebundenheit, Wertgerichtetheit hat Seybold auch im 21. Jh. uns noch etwas zu sagen. Sie hat mit ihren Schriften, ihrer praktischen Arbeit an Schule und Hochschule und ihrem wissenschaftlichen Streben den pädagogischen Diskurs zum Schulsport nach dem 2. Weltkrieg stark beeinflusst.
Wer war diese Sportpädagogin, die im Dezember 2010 verstarb? Geboren als Annemarie Brunnhuber 1920 in Nürnberg, wuchs sie als Einzelkind in der NS-Zeit auf und entwickelte als junges Mädchen ihre Lust an Bewegung und Sport mit ihren Altersgenossinnen. In München und Erlangen studierte sie für das Lehramt an Gymnasien die Fächer Deutsch, Geschichte, Leibeserziehung, aber auch Pädagogik und Psychologie. Schon gegen Ende ihres Studiums erhielt sie die Chance als Hilfskraft an der Konzeption der neuen Lehramtausbildung in Erlangen mitzuarbeiten. 1951-1953 lernte sie als Assistentin von Carl Diem in Köln sportwissenschaftliche Arbeitsweisen kennen - auch wenn sie sich damals noch darüber lustig machte und ihrem Chef zu dessen ärger vorschlug, das Studium nun mit dem "Dr. Purzelbaum" abzuschließen (Seybold 1999, 171). Sie blieb zeitlebens kritisch gegenüber einer faktenorientierten sportwissenschaftlichen Forschung, die mit großem Aufwand nur "längst bekanntes" bestötigt. Ihren fachlichen Horizont erweiterte sie jedoch schon damals durch den Blick in andere Länder und Kulturen -? eine Studienreise nach England machte sie mit dem dortigen System des Schulsports und der Lehrerbildung bekannt. Permanente Mitarbeit bei Fachzeitschriften, vor allem die monatlichen Berichte "Aus in- und ausländischen Zeitschriften" für "Die Leibeserziehung" erweiterten ihren fachlichen Horizont und ihre Bekanntheit im Bereich der Sportpädagogik/-didaktik. Für ihr Werk "Die Prinzipien der modernen Pädagogik in der Leibeserziehung", das ihr unter Kollegen den Spitznamen "Prinzipia" einbrachte, erhielt sie 1954 den Carl-Diem-Preis.
Nachdem sie als Ehefrau und Mutter auf eine wissenschaftliche Karriere in Köln zugunsten der Familie verzichtete und nach Nürnberg zurückkehrte, erhielt Annemarie Seybold 1957 die Möglichkeit an der dortigen Pädagogischen Hochschule - später Erziehungswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg - als Dozentin im Rahmen der Grund- und Hauptschullehrerbildung zu arbeiten. Diese Aufgabe übernahm sie mit viel Begeisterung und Schwung und entwickelte mit dem dortigen Kollegium ein eigenes, an der "didaktischen Ausbildung" orientiertes Konzept - nicht gerade zur Freude der Kollegen aus dem Sportzentrum in Erlangen, die damals den Schwerpunkt mehr auf die "sportliche Förderung" (173) der Lehramtsstudierenden legen zu müssen glaubten.
Annemarie Seybold ging zeitlebens und konsequent ihren Weg der engen Verbindung von Theorie und Praxis in Forschung und Lehre. Durch die regelmäßige Teilnahme an den alle zwei Jahre in Graz stattfindenden "Internationalen Lehrgängen für die Methodik des Sportunterrichts", veranstaltet vom österreichischen Leibeserzieher Joseph Recla - sogar noch 2005 als Referentin anlässlich der Feier seines 100. Geburtstags - fanden ihre pädagogisch-didaktischen Ideen Verbreitung. Über Österreich und Deutschland hinaus wurde sie international bekannt, war als Referentin wiederholt in Brasilien, Argentinien,? aber auch in Persien und Südafrika begehrt. Für diese anregende und fruchtbare Arbeit erhielt sie 1970 die Hans-Groll-Plakette und andere internationale Auszeichnungen. Ihre Bücher und Artikel zu grundsätzlichen und aktuellen Fragen des Sportunterrichts wurden zum Teil in 5 Sprachen übersetzt. 2002 wurde ihr das Bundesverdienstkreuz verliehen.
Als ein Meilenstein ihrer wissenschaftlichen Arbeit muss ein Langzeitversuch an einer Nürnberger Volksschule gewürdigt werden: Vom Schuljahr 1968/69 an begleitete sie neun Jahre lang zusammen mit ihren jeweiligen Studentinnen eine Klasse vom ersten Schuljahr an. Die Entwicklung der Schülerinnen und Schüler wurde ebenso festgehalten wie die Erfolge und Misserfolge der Lehrversuche der beteiligten Studentinnen. Seybold dokumentierte die Lernfortschritte der Kinder, hielt die Unterrichtsthemen in Lehr- und Arbeitsbögen fest, erarbeitete Arbeitshilfen und Lehrpläne für diese Klasse. Ihr Ziel war dabei, den Kindern und Jugendlichen Freude an Bewegung zu vermitteln und zu erhalten, maßgeblich war dafür deren individueller Lernfortschritt und weniger das Erreichen fremd gesetzter Vorgaben. Die Erfahrungen dieser systematischen Fallstudie wurden zur empirischen Grundlage für ihre Lehre und ihre Veröffentlichungen.
1999, im Band 100 der "dvs-Schriftenreihe" schrieb sie deshalb im Rückblick auf ihr Lebenswerk: "Mein ganzes Leben hindurch blieb die 'Leibeserziehung', der 'Sportunterricht', die 'Bewegungserziehung' spannend. Die Fülle ihrer Aspekte und Probleme drängt zu immer neuen Lösungsversuchen." Zwar sind heute allenthalben Ansätze zu erkennen, vom Sportunterricht weg zu einer weiter gefassten 'Bewegungserziehung' zu gelangen, doch werden diese Ansätze immer wieder von überwunden geglaubten Vorstellungen blockiert. Hierher gehören die vielen "wissenschaftlich begründeten" Tests in der Schule, die Pestalozzis Gliedergymnastik und die Spielschen Freiübungen auferstehen lassen, Hirnkonstrukte, einem Prinzip zuliebe." (177/178)
Annemarie Seybold war eine Frau in Bewegung. Bis ins hohe Alter interessierte sie sich für die Entwicklungen der Sportwissenschaft und kommentierte deren Ergebnisse kritisch aus ihrer sportpädagischen und "didaktischen Perspektive". Ihre Arbeit hat die Lehrerbildung im Fach Sport und den schulischen Sportunterricht bereichert. Die Spuren dieser Arbeit wollte sie auch in Zukunft erhalten wissen und rief deshalb an der Universität Erlangen-Nürnberg eine nach ihr benannte Stiftung ins Leben, um hervorragende, förderungswürdige Abschlussarbeiten zur Sportdidaktik und zu Fragen der Erziehung im Sportunterricht auszuzeichnen. Es ist zu wünschen, dass dieser praxisorientierte Annemarie-Seybold-Preis dazu beträgt, dass Kinder mit Lust und Freude üben, spielen, leisten und tanzen lernen (Didaktische Prinzipien der Leibeserziehung 1972).
Literatur:
Seybold? Annemarie (1954). Pädagogische Prinzipien der Leibererziehung. Hg. Ausschuss deutscher Leibeserzieher. Beiträge zur Lehre und Forschung der Leibeserziehung. Heft 1.
Seybold, Annemarie (1972). Didaktische Prinzipien der Leibeserziehung. Hofmann Verlag Schorndorf.
Seybold, Annemarie (1999). Pädagogische Prinzipien für Bewegungserziehung und Sport in der Schule. In: Zieschang, Klaus (Hrsg.) Sportwissenschaft in Lebensbildern. Von den Anfängen bis zur Gegenwart aus der Perspektive von Zeitzeugen. Schriften der dvs Band 1, S. 169, 179.
Baumann, Hartmut (Hrsg.) (2001). Von der Leibeserziehung zur Sportpädagogik - Zeitgenössische Betrachtungen. Annemarie Seybold zum 80. Geburtstag. Books on demand.