„This conference in Essen, Germany, was one of the best“ schreibt Will Hopkins in seinem soeben in der online Zeitschrift „Sportscience“ (Sportsci.org/2017/ECSSsport.htm) publizierten Kongressbericht. Wer Will kennt weiß, er ist als „Reich-Ranicki der Sportwissenschaft“, ein überaus zeitkritischer Mensch. Aber er steht nicht alleine da. Zahlreiche Delegierte aus aller Welt geben ihm Recht. Wer angesichts der satanisch anmutenden rostigen Fördertürme der Region mit gewisser Skepsis in Deutschlands ehemals grauen Ruhrpott angereist war, sah sich bald eines Besseren belehrt. Unter warmer Sommersonne leuchtete der Essener Gruga-Park hell und farbenfroh auf und die charmanten Bars der Rü lockten nach einem langen Kongresstag zu einem kühlen deutschen Bier.
2301 Sportwissenschaftler/innen aus 64 Nationen aller Kontinente trafen sich vom 4. bis 8. Juli 2017 im Ruhrgebiet zum jährlichen Kongress des European College of Sport Science (ECSS). Eingeladen hatten die Kongresspräsidenten/innen, die Verantwortlichen im wissenschaftlichen und organisatorischen Bereich Alexander Ferrauti und Petra Platen (Ruhr-Universität Bochum) sowie Thomas Jaitner und Elke Grimminger-Seidensticker (TU Dortmund). Als institutionelle Gastgeber fungierte die Universitätsallianz Ruhr mit der Fakultät für Sportwissenschaft (Ruhr-Universität Bochum), dem Institut für Sport und Sportwissenschaft (Technische Universität Dortmund) und dem Institut für Sport- und Bewegungswissenschaften (Universität Duisburg-Essen). 1750 sportwissenschaftliche Beiträge (aufgeteilt auf 4 Plenarsitzungen, 37 Invited Sessions, 112 Oral Sessions, 41 Mini Oral Sessions, 6 Exchange Sessions, 30 Conventional Poster Sessions und 203 E-Poster) widmeten sich Themen aus den Bereichen Sports Medicine and Physiology, Biomechanics, Training and Testing sowie Social Science and Humanities. Ein besonderer Dank gilt den Reviewern aus unterschiedlichen sportwissenschaftlichen Disziplinen, mit deren Hilfe ein qualitativ hochwertiges Programm zusammengestellt werden konnte.
Den inhaltlichen roten Faden bildeten die „Four Big I´s“ - Individuality, Inactivity, Identification and Inclusion. Ihnen wurde jeweils eine der vier Plenarsitzungen gewidmet, wobei die international renommierten Expert/innen das Thema jeweils aus völlig unterschiedlicher sportwissenschaftlicher Perspektive beleuchteten. So war es mehr als spannend zu beobachten, wie der Biomechaniker Peter Brüggemann und der Philosoph und Anthropologe David Howe spätestens in der Diskussion zum übergeordneten Thema „Inclusion“ zahlreiche Anknüpfungspunkte fanden und die Interdisziplinarität unseres Faches mit Leben füllten.
Unser Bemühen bestand auch darin, die gesamte deutsche Sportwissenschaft einschließlich des gesamten sportwissenschaftlichen Nachwuchses mit auf die Reise zu nehmen. Der Anteil der deutschen Beiträge lag in der Nationenwertung erfreulicherweise erstmals an der Spitze aller Abstract-Einreichungen. Dieser interdisziplinäre und internationale Weg hat der deutschen Sportwissenschaft nach der ersten ECSS Auflage vor sechzehn Jahren in Köln gutgetan. So jedenfalls lauten die vielfältigen positiven Rückmeldungen aus ganz Deutschland.
Neben dem üblichen wissenschaftlichen Austausch standen zahlreiche weitere Punkte im Rahmenprogramm. Ein Satellite Workshop unter dem Thema „From the Lab to the Track“ lockte fast 150 Teilnehmer/innen bereits einen Tag vor Kongressbeginn nach Bochum. Nach dem Hauptvortrag von Shona Halson (Australian Institute of Sport) folgten zehn Workshops, in denen die aktuellen Forschungsprojekte der Fakultät vorgestellt wurden. Der erste ECSS Sport Science Slam bildet den unterhaltsamen Höhepunkt des Tages: acht Nachwuchswissenschaftler/innen aus sechs Ländern stellten ihre Projekte mit Show und Entertainment vor. Die Siegerin Franziska Lautenbach (TU Dortmund) wurde mittels „Applausometer" ermittelt.
Die offizielle ECSS-Eröffnungsfeier wird Vielen mit ihren Showteilen (angelehnt an die „Four Big I´s“) und den kurzen und persönlichen Ansprachen für lange Zeit in Erinnerung bleiben. Fußballjongleur Iya Traoré wurde extra aus Paris eingeflogen und sorgte zusammen mit 30 U12-Fußballern der Region auf der Bühne mit Akrobatik für Stimmung. Ein künstlerisches Meisterwerk des Bewegungstheaters lieferte das Ensemble die Mobilés mit einem Schattenspiel zum Thema Inactivity und mit einer ironischen Performance zum Thema Individuality. Breakdancer Dergin Tokmak sorgte mit seiner spektakulären Performance zum Thema Inclusion für Emotionen.
In Essen, der grünen Hauptstadt des Jahres 2017, dominierte auch auf dem Kongress die Farbe Grün: Hellgrüne Kongresstaschen, ökologisch abbaubare Verpackungsmaterialien. Den 75 Volunteers, ebenfalls in grünen Shirts gekleidet, gebührt ein riesengroßer Dank für deren unermüdlichen Einsatz, der wesentlich zum Gelingen des Kongresses beitrug.
Eingebettet in eine erstmals interaktiv gestaltete Industrieausstellung kamen auch die fast 60 Aussteller auf ihre Kosten. Ein „Raffle“ mit konkreten Aufgaben, die an den Ständen der Aussteller zu erfüllen waren sowie vier „Move Spots“ (u. a. Mini-Tischtennis und Putting Green) sorgten dafür, dass die Ausstellerfläche stets gut besucht war und die Produkte aktiv erlebt werden konnten.
Von den zahlreichen Gewinnern wissenschaftlicher Nachwuchspreise sollen hier besonders zwei Personen Erwähnung finden: Der Australier Dr. Brent Raiteri arbeitet derzeit als Post-Doc bei Prof. Dr. Daniel Hahn (Bewegungswissenschaft, RUB). Brent Raiteri gewann den bedeutendsten Young Investigator Award des ECSS in der Kategorie Oral Presentations (4.000 €) mit einem biomechanischen Thema zur Muskelfunktion des Tibialis anterior. Die Australierin Danielle Gescheit (Tennis Australia) gewann den German Tennis Federation Award (2.000 €) mit einem Thema zum Zusammenhang zwischen akuter und chronischer Trainingsbelastung und dem Verletzungsrisiko im Profitennis.
Evaluationen sind nur ein Weg der Qualitätsbemessung, erscheint jedoch heutzutage der „Social Media Outreach“ ein wenigstens genauso wichtiger Indikator zu sein. 625 Teilnehmer/innen twitterten 1.483 Nachrichten und erreichten hiermit 1.108.212 Leser/innen. Schon oft sind Petra Platen, Thomas Jaitner, Elke Grimminger-Seidensticker und ich mitleidig gefragt worden: „Würdet ihr das Ganze wohl noch mal machen?“ Aus meiner Sicht kann ich diese Frage klar verneinen. Noch mal auf keinen Fall, aber das eine Mal immer wieder gerne! Es war uns eine Freude und eine Ehre zugleich.
Text: Alexander Ferrauti